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In den Pyrenäen gab es Geier. Seine Leiche würde nie gefunden werden.


Das Versteck


Aus dem II. Teil. Seite 55 - 60.

In den ersten Wochen hatte Bernhard nicht wahrhaben wollen, dass ein Mensch so vollständig verschwinden kann. Im Land der Tellerwäscher, Tramper und Trailerparks vielleicht, aber nicht in Deutschland. Bernhard tat sein Möglichstes, aber das war nicht viel. Schließlich war er weder Profiler noch Geheimdienstagent. Er konnte keine Melderegister einsehen, Handys abhören oder Kontobewegungen verfolgen. Aus der Presse wusste er, dass die Sicherheitsbehörden von solchen Techniken eifrig Gebrauch machten, mit oder ohne richterliche Anordnung. Dann jedenfalls, wenn es um die Jagd auf Terroristen ging. Aber Jonas war kein Terrorist. Er war nicht einmal Moslem. Er war freiwillig verschwunden, er hatte nichts verbrochen, er war volljährig und ein freier Mann. Keine Polizeidienststelle der Welt hätte unter diesen Umständen die Fahndung aufgenommen. Sie hätten eine gelbe Akte angelegt, einmal pro Woche auf telefonische Nachfrage versichert, dass sie an der Sache dranblieben, und bei jeder Gelegenheit darauf hingewiesen, dass Vermisste in Familienangelegenheiten so gut wie immer von selbst wieder auftauchten. Früher oder später.
Der Privatdetektiv verlangte 800 Euro Vorschuss. Mit Ach und Krach hätte Bernhard 400 auftreiben können. Es gelang ihm nicht einmal, dem Mann am anderen Ende der Leitung, dessen Stimme so gar nicht nach hochgelegten Füßen, Hut und Zigarettenrauch klang, ein paar kostenfreie Tipps zu entlocken. Im Gegenteil, er wurde unverhohlen ausgelacht:
"Wollen Sie, dass ich meine Lizenz verliere?"
Gabriele nahm Bernhard den Hörer aus der Hand und brachte den schlecht gelaunten Schnüffler zum Reden.
"Steht nur Jonas’ Nachname auf dem Klingelschild?", fragte sie, nachdem sie aufgelegt hatte.
"Ich glaube."
"Dann stell dich nachts vor die Tür und ruf den Schlüsselnotdienst."
Was Bernhard auch tat. Er wartete Cindys letzten Freier ab, schlüpfte ins Haus, bevor die Eingangstür zugefallen war, und empfing nachts um drei, nur mit Shorts und Mantel bekleidet, einen verschlafenen Schlosser, der aussah, als ginge er noch zur Schule.
"Zum Glück hatte ich das Handy in der Manteltasche", sagte Bernhard.
Fünfzig Sekunden später war die Tür zu Jonas’ Wohnung geöffnet. Bernhard trat ein, tat so, als suche er sein Portemonnaie in den verschiedenen Jacken an der Garderobe, und hielt dem Milchgesicht schließlich seinen Ausweis unter die Nase. Duder stand da. Genau wie auf dem Klingelschild.
"Danke."
"Gute Nacht."
Bernhard atmete durch. Dann wagte er einen ersten Blick in die Wohnung und erschrak. Noch immer stand Geschirr überall verstreut, die Wurst war verschrumpelt, der Boden übersät mit ausgetrunkenen Flaschen. Alle umgekippt. Erbrochenes war im Teppich und an der Keramik der Toilette getrocknet. Der Geruch von vielen Menschen war über die Wochen verflogen. Als hätte eine über den Dingen stehende Macht mit den Fingern geschnippt und alle Gäste der Party von einer Sekunde auf die andere entfernt. Dafür roch es nach Schimmel. Bernhard fand einen leeren Koffer und einen gut gefüllten Kleiderschrank. Nichts deutete darauf hin, dass Jonas eine längere Abwesenheit geplant hatte.
­ Er wusch das Geschirr, sammelte Müll und schrubbte mit einem Schwamm das Erbrochene aus den Fasern des Teppichs, ängstlich darauf bedacht, keinen Lärm zu machen. Ihm war nicht klar, wie er Cindy seine Anwesenheit erklären sollte, ohne zu wissen, was sie wusste. Jonas konnte ihr alles oder nichts erzählt haben, und letzten Endes beging Bernhard gerade einen Hausfriedensbruch, da er erstens vorsätzlich und zweitens, davon musste er ausgehen, gegen Jonas’ Willen hier eingedrungen war. Höchststrafe nach § 123 StGB: ein Jahr.
Geräuschlosigkeit erwies sich als schwieriges Unterfangen; die Schaffung von Ordnung erzeugt Lärm. Wer schon einmal versucht hat, leise eine Bierflasche in einen Bierkasten zu stellen, wird dies bestätigen können. Aber Bernhard konnte nicht nichts tun. In diesem Durcheinander hätte er jedes Indiz selbst dann übersehen, wenn es in Form eines Briefs mit der Aufschrift "Für meinen Bruder" mitten auf dem Schreibtisch gelegen hätte. Den Wasserhahn öffnete er nur halb und ließ den Strahl zuerst auf ein zusammengeknülltes Handtuch treffen. Vorsichtig setzte er die Teller ins Spülbecken, vorsichtig platzierte er sie auf der Abtropffläche. Einzeln nahm er die Bierflaschen und ließ sie sachte in ihre Fächer im Kasten gleiten. Bis ihm die Kästen ausgingen.
Aber es gab keinen Brief. Gegen neun Uhr morgens saß Bernhard am sauber gewischten Tisch, in der einen Ecke des Zimmers ein Turm aus voll gestopften Müllsäcken, in der anderen ein Meer aus Altglas. Neben dem Bett lagen drei aufgeschlagene Bücher, und im Bad standen Zahnbürste, Zahnpasta, Deo und Rasierzeug unordentlich und versifft nebeneinander. Bernhard hatte ein Ladegerät für ein Handy sowie Jonas’ Reisepass entdeckt. Ein Ladegerät war leicht neu zu beschaffen. Einen Reisepass konnte man als verloren melden. Er hatte Heinzelmännchen gespielt und rein gar nichts gefunden. Bernhard entschied zu bleiben. Drei Tage lang. Es wurden die drei längsten Tage seines Lebens.
Am ersten war es noch leicht, die Spannung aufrechtzuerhalten. Jeden Augenblick, davon war er überzeugt, würde in die Stille hinein das Telefon klingeln, und wann immer er Schritte im Treppenhaus hörte, rechnete er damit, dass die Wohnungstür geöffnet werden würde. Unter der zuletzt gewählten Nummer im Telefon meldete sich Uno Pizza. Bernhard aß Nudeln mit Ketchup zum Frühstück und Reis mit Kidney-Bohnen am Abend. Jonas war nie ein Freund der ausgewogenen Ernährung gewesen. Nachdem Bernhard die zwei letzten Flaschen Carlsberg getrunken hatte, zog er den Stecker des Kühlschranks. Er benutzte Jonas’ Zahnbürste und legte sich, nachdem er beschlossen hatte, dass es lächerlich wäre, auf der Couch zu schlafen, in Jonas’ Bett. Am zweiten Tag, nachdem er zum Frühstück eine Dose Ravioli warm gemacht und aus dem Inhalt der liegen gebliebenen Tabakbeutel eine dürre Zigarette gedreht hatte, ahnte er, dass sein Warten vergeblich war und auch am dritten Tag nichts passieren würde. Niemand würde anrufen. Niemand einen Schlüssel im Schloss der Tür umdrehen. Es war der mangelnde Glaube an die Zukunft, der die Gegenwart so unerträglich machte.
In Wahrheit war es nicht der fehlende Zugriff auf die Daten der Melderegister, Banken und Telefonanbieter, der Bernhards Suche behinderte, sondern der fehlende Zugriff auf Jonas’ Leben. Die alten Freunde waren verschwunden, die neuen kannte Bernhard nicht. Kosnik hatte Jonas zufällig vor der Party im Getränkemarkt getroffen. Keiner von beiden hatte gewusst, dass es den jeweils anderen nach Leipzig verschlagen hatte, und so war Kosnik spontan zum Geburtstag eingeladen worden.
Und die einzige Person, die vielleicht etwas wusste, weigerte sich, mit ihm zu sprechen.
"Du solltest dich schämen, Bernhard Duder."
Die Mutter hatte ihrem Jüngsten nie recht über den Weg getraut. Welches Omen sie in der Ähnlichkeit ihrer Söhne sah, blieb ihr Geheimnis; schuld war auf jeden Fall Bernhard. Wahrscheinlich freute sie sich sogar, dass es endlich zum Streit gekommen war.
"Mutter! Dann sag mir wenigstens, wofür?"
Du brauchst mich Weihnachten nicht mehr besuchen kommen."
Natürlich schämte sich Bernhard Duder, es entsprach schlichtweg seinem Charakter. Dafür brauchte er keine Ratschläge von seiner Mutter, die in Bernhards Augen seit Jahren am Rand des Wahnsinns wandelte. Bernhard fühlte die Schuld wie etwas Gegenständliches, ein Kleidungsstück, das sich nicht ausziehen ließ. Es war keine vage Schuld, sondern eine ganz konkrete. Bernhard war schuld an Jonas’ Verschwinden, weil er den Schwur, niemals die Frau des anderen zu berühren, gebrochen hatte. Ohne Wissen und Wollen, wie die Juristen sagen, aber Unwissenheit schützt vor Strafe nicht.
So jedenfalls Bernhards Sicht der Dinge. Gabriele konnte die These weder bestätigen noch entkräften und blieb auch auf die Frage, ob Jonas in sie verliebt gewesen sei, eine Ant- wort schuldig. Könnte sein. Muss aber nicht. Auf einer Party hatte sie ihn kennengelernt, auf einer anderen wiedergesehen, und dann hatte er sie zu seiner eigenen eingeladen. Schon möglich, dass er beschlossen hatte, sie als Liebe seines Lebens zu betrachten. Ob er in dieser Richtung Andeutungen gemacht hatte? Schon möglich.
"Zu viele Leute haben behauptet, ich sei ihr Ein und Alles. Verstehst du. Wenn ich nicht aufgehört hätte, das zu beachten, wäre ich heute Nonne oder verrückt. Es tut mir leid. Ich kann dir nicht sagen, was dein Bruder empfunden hat. Vielleicht will er dich nie wiedersehen. Vielleicht ist er nur nach Mallorca geflogen."
Und meldet sich nicht, weil sein Handy keinen Saft hat, dachte Bernhard, während die Postkarte noch unterwegs ist. Oder Jonas war von der Bildfläche verschwunden, um Ruhe in die Angelegenheit zu bringen, um Bernhard und Gabriele nicht im Weg zu stehen, um, wenn sich alles konsolidiert haben würde, plötzlich gut gelaunt wieder aufzutauchen. Oder er hatte sich in den Zug gesetzt, um Bernhard die Entscheidung abzunehmen, und hatte keine Postkarte geschrieben, weil er beim Wandern in den Pyrenäen ausgerutscht war und nun in einem kalten Bach in den Bergen lag. In den Pyrenäen gab es Geier. Seine Leiche würde nie gefunden werden. Und wenn doch, wer würde auf die Idee kommen, das übrig gebliebene Gebiss nach Deutschland zu schicken? Oder Jonas wollte sich rächen. Oder der Zufall hatte eine ganz andere Geschichte erfunden. Spaßeshalber versuchte Bernhard, sich an Gabrieles gutem Gewissen festzuhalten. Wenn sie sich nicht schuldig fühlte, warum sollte er es tun? Aber das war aussichtslos. Erstens war Jonas nicht Gabrieles Bruder, sondern seiner, und zweitens funktioniert ein Gewissen immer nur für eine Person.


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